Das europäische Verfahren für geringfügige Forderungen
Eine italienische Fluggesellschaft verliert das Gepäck eines finnischen Passagiers im Wert von 1.200 Euro; der deutsche Onlineshop liefert einem italienischen Verbraucher das bestellte und bereits bezahlte Hightech-Produkt zum Preis von 900 Euro nicht oder ein italienischer Konsument bucht ein Luxushotel auf einer griechischen Insel, um dann feststellen zu müssen, dass das Hotel eher einer Jugendherberge gleicht.Wenn es Verbrauchern nicht gelingt, für diese grenzüberschreitenden Beschwerden eine gütliche Lösung zu finden, dann steht ihnen noch eine Möglichkeit offen, ohne dass sie sich dabei gezwungenermaßen an einen Anwalt wenden müssen. Es handelt sich dabei um das von der Verordnung (EG) Nr. 861/2007 vorgesehene europäische Verfahren für geringfügige Forderungen, welches in allen EU-Mitgliedstaaten (mit Ausnahme von Dänemark) am 1. Jänner 2009 in Kraft getreten ist. Häufig wird für dieses Verfahren auch der englische Begriff European Small Claims Procedure (ESCP) verwendet. Das Verfahren wurde geschaffen, um den Zugang der Verbraucher zur Justiz zu verbessern und zu erleichtern, es ihnen zu ermöglichen, ihre Rechte bei grenzüberschreitenden Streitigkeiten geltend zu machen und im Heimatstaat ein Urteil zu erhalten, welches in der gesamten EU direkt anwendbar ist.
Das Verfahren ist für alle grenzüberschreitenden Streitigkeiten anwendbar, die einen Wert von 5.000 Euro nicht überschreiten (ohne Zinsen, Kosten und Auslagen), und es erfordert keine Vertretung durch einen Rechtsanwalt.
Einige Sachgebiete sind von der Anwendung dieses Verfahrens explizit ausgeschlossen, es ist jedoch bei den “klassischen” Problemen bei grenzüberschreitenden Käufen, wie beispielsweise der Warenlieferung, der Gewährleistung, dem Schadenersatz im Reisesektor und in vielen anderen Bereichen anwendbar. Zu den von der Anwendung ausgeschlossenen Bereichen gehören Steuer-, Zoll- oder verwaltungsrechtliche Angelegenheiten, das Testament- und das Erbrecht, die Konkurse und das Arbeitsrecht.
Das europäische Verfahren für geringfügige Forderungen funktioniert auf der Grundlage von Standardformblättern und wird schriftlich durchgeführt, außer das Gericht hält eine mündliche Verhandlung für erforderlich.
Die Verordnung sieht vier Standardformblätter vor, die in allen Sprachen der EU erhältlich sind. Auf der Internetseite des Europäischen Gerichtsaltasses für Zivilsachen und auch auf dem Europäischen Justizportal können diese Formblätter heruntergeladen werden (siehe dazu die entsprechenden Links am Endes dieses Infoblatts).
Die Verordnung (EG) Nr. 861/2007 hat für die zu erfüllenden einzelnen Verfahrensschritte sehr genaue und knappe Fristen eingeführt, um den Verfahrensweg zu beschleunigen; so sind Fristen sowohl für die Parteien als auch für das zuständige Gericht vorgesehen.
Ist das zuständige Gericht einmal festgestellt (siehe dazu unser Infoblatt Nr. 3 zum Gerichtsstand und zum anzuwendenden Recht), füllt der Verbraucher das sog. Formblatt A, also das Klageformblatt, aus. Auf diesem Formblatt werden die Daten des Konsumenten, der Gegenseite, eine Fallbeschreibung und der Antrag des klagenden Verbrauchers angegeben. Dem Formblatt A sollten alle Beweisunterlagen wie Quittungen, Rechnungen, Schriftverkehr usw. beigefügt werden.
Das ausgefüllte Formblatt A wird dann an das vom jeweiligen Mitgliedstaat ernannte, zuständige Gericht weitergeleitet. Die einzelnen Mitgliedstaaten haben unterschiedliche Übermittlungsarten für das Formblatt vorgesehen; in Italien muss das Formblatt an das zuständige Gericht, d.h., den Friedensrichter, mittels Einschreiben übermittelt werden (ein E-Mail o Fax reicht also nicht aus).
Nach dem Erhalt des Klageformblattes muss das Gericht den ihm vorbehaltenen Teil im Antwortformblatt ausfüllen. Innerhalb von 14 Tagen stellt das Gericht der Gegenseite die Akten gemeinsam mit dem Antwortformblatt zu (das Formblatt Nr. 3). Der Beklagte hat 30 Tage Zeit zu antworten. Sobald eine Antwort erfolgt ist, schickt das Gericht dem Konsumenten innerhalb von 14 Tagen eine Kopie der Antwort. Für den Fall, dass die Gegenseite eine Widerklage (d.h., anstatt sich zu verteidigen, wird der Verbraucher anklagt) erhoben hat, hat der Kläger weitere 30 Tage Zeit zu antworten.
Innerhalb von 30 Tagen ab Erhalt der Antworten muss das Gericht ein Urteil erlassen oder die Parteien zu weiteren Angaben in schriftlicher Form auffordern oder es kann die Parteien zu einer mündlichen Verhandlung vorladen.
Das am Ende des Verfahrens ergangene Urteil wird in einem anderen Mitgliedstaat anerkannt und vollstreckt, ohne dass es einer Vollstreckbarerklärung bedarf und ohne dass die Anerkennung angefochten werden kann. Wenn die Gegenseite das Urteil nicht umsetzt, ist zu dessen Vollstreckung die Intervention eines Rechtsanwaltes notwendig.
Die mit dem Verfahren verbundenen Verwaltungskosten variieren in den einzelnen Mitgliedstaaten zwischen 15 und 200 Euro; da keine Vertretung durch einen Rechtsanwalt vorgesehen ist und die gemeinschaftliche Verordnung für das gesamte Verfahren knappe Fristen vorgesehen hat, müsste dieses schnell, kostengünstig und wirksam sein.
Jedoch darf nicht vergessen werden, dass es sich trotz allem um ein Gerichtsverfahren handelt. Deshalb müssen auch mögliche Kosten für ein Gutachten oder eine Anhörung, sollte diese vom Gericht als notwendig erachtet werden, einkalkuliert werden.
Darüber hinaus, mit dem Urteil entscheidet das Gericht auch über die Verfahrenskosten und bei einer Niederlage könnte der Verbraucher – im schlimmsten Fall – auch die Kosten der Gegenseite tragen müssen (nichts hindert die der Gegenseite nämlich daran, sich von einem Anwalt vertreten zu lassen).
Für weitere Informationen sowie bezüglich des Ausfüllens der Formblätter können Sie das Europäische Verbraucherzentrum Italien – Büro Bozen kontaktieren.
Nützliche Links:
Infoblatt zum Gerichtsstand und zum anzuwendenden Recht
Europäischer Gerichtsatlas für Zivilsachen
Europäisches Justizportal